„native“: Homemade
Das Echt essen-Gasthaus im Februar: Das Londoner Lokal kocht konsequent gut mit Produkten der Insel. Ein Zeichen für die Zukunft des Landes?
London, again. Vor 50 Jahren in den Swinging Sixties war ich erstmals in der Metropole des Pop, der Beatles, der Kinks, der Stones, von „Hair“ und Twiggy. Leicht heruntergekommen war alles, aber erfüllt von ungeheurer Lebenslust. Immer wieder packte mich die Sehnsucht nach dieser Stadt mit den vielen Parks, mit den so schlagfertigen wie hilfsbereiten Menschen – die mich 2002, als ich beim London-Marathon erschöpft aufgeben wollte, mit „Jack you make it“ ins Ziel peitschten.

Green City: Parks prägen die Stadt
Nie hatte ich Probleme mit dem englischen Essen. Schon immer war es besser als sein Ruf – und inzwischen gehört das auf Hochglanz polierte London mit seinen über 40 000 Gaststätten zu den weltweiten kulinarischen Hotspots. „native“ heißt mein aktuelles Ziel – ein hippes Gasthaus, dessen Name und sein Motto „Wild Food“ Programm sind: Schließlich wird hier ausschließlich Einheimisches aufgetischt. Damit gehört das unter einer Eisenbahnbrücke liegende Lokal zu einer Bewegung von Spitzenköchen, die ihre Berufung nicht primär darin sehen, weltweit zusammengekarrte Waren zu veredeln, sondern die jeweilige Heimat auf dem Teller leuchten zu lassen.

Oben Brücke, unten Gasthaus: „native“
Wie geschaffen für ein Naturlokal sind die beiden englischen Gründer, die sich Iwan und Imogen nennen. Iwan brachte sich das Kochhandwerk in vielen Kursen selbst bei, setzte sich intensiv mit lokalen Produkten auseinander, arbeitete in dem renommierten Restaurant „Blue Hill Farm“ nahe New York, das eigene Felder besitzt. Iwans Freundin Imogen ist nördlich von London mitten in der Natur auf dem Land aufgewachsen, hat eine eigene Falknerei und liebt die Jagd. Wobei sie die Tiere nicht nur schießt, sondern auch ausnehmen und verarbeiten kann.

Shabby Chic, gutes Essen: Gastraum
Spannend gelegen ist das „native“ südlich der Themse im quirligen Bezirk Southwark in direkter Nähe zum Borough-Market, der zu den ältesten und größten Lebensmittel-Märkten der Stadt zählt. Während rundrum das Museum Tate Modern und der futuristische Wolkenkratzer „The Shard“ Schübe der Gentrifizierung lostreten, verströmt die Gegend um das „native“ noch shabby Chic, der sich im Innern des Gasthauses fortsetzt: Fabrikcharme mit abgewetztem, aber poliertem Parkett, Wände mit Natursteinen, Stahlträger und Tische mit archaischen Steinplatten. Oben rumpelt die Eisenbahn, unten ertönt nicht zu lauter rockiger Rap.
Beim locker aufgestellten Service bestellen wir das „Full Tasting Menu“ für 60 Pfund mit Weinbegleitung für 45 Pfund, plus 12,5 Prozent Bedienungsgeld, sodass das ganze Essen pro Person angemessene 140 Euro kostet.

Schmeckt so gut, wie es aussieht: Brot
Rund acht Gänge erwarten uns, von denen ich die heraushebe, die mir besonders gefallen haben. Fluffig locker und hocharomatisch das mit Rosmarin gewürzte Brot, wozu Knoblauch-aromatisiertes Öl gereicht wird. Eine angenehme Überraschung der Wein, ein Sekt aus England. Ja, Sie lesen richtig, die Insel ist inzwischen auch eine ernst zu nehmende Weinnation – und das vor allem für Sparkling, denn die kalkigen Böden in Südengland ähneln denen in der Champagne, weshalb etliche Produzenten von dort sich auch schon Lagen in Britannien gesichert haben. Angenehm trocken und leicht muskatig schmeckt unser „Three Choirs Classic Cuvee“ aus Gloucestershire irgendwo zwischen Bristol und Oxford.

Wird vom Rhabarber geküsst: Knurrhahn
Mit einem Höhepunkt startet das Menü: Ein nach Ceviche-Art, also mit Limettensaft marinierter Gurnard, der bei uns Knurrhahn heißt. Das Fleisch riecht intensiv nach Fisch, ohne „fischig“ zu sein. Seinen Reiz gewinnt das Gericht durch die Aromatisierung mit Sanddorn und Rhabarber. Das alles verleiht eine elegante Säure, die fein durch saure Sahne, petersiliges Kraut und ein dezentes Öl abgepuffert wird. Vollends zum Genuss wird der Gang durch den feinen Sekt.

Liaison délicieux: Kopfsalat und Butt
Raffiniert der nicht abgebildete Gang einer in der Schale geschickt kurz vor dem Verbrennen gegarten Kartoffel, die mit einer Kartoffelfarce gefüllt und mit „Perlen“ aus schwarzer Zwiebelsaat gewürzt wird. Wobei die Gemüse von drei Farmen kommen, mit denen eng zusammen gearbeitet wird – und zwar so eng, dass deren Angebot letztendlich den Speiseplan prägt. Ein Konzept, das in Berlin ebenfalls die Macher vom hochgelobten „Ernst“, dem hippigen „Nobelhart & Schmutzig“ und dem geerdeten „Eins44“ verfolgen.
Cornish brill heißt der Butt-artige, perfekt auf den Punkt gebratene Fisch mit seinem festen Fleisch, den geschmorter Kopfsalat kongenial begleitet. Alles bindet eine Beurre blanc-artige Auster-Emulsion klug zusammen, was dem Gericht eine federnde Leichtigkeit verleiht. Ideal dazu mit seiner unaufdringlichen Ausdruckskraft der biologische „Loireio Antonio Lopes Ribeiro“, ein 2015er Vinho Verde aus Portugal.

Viel zu schade als Servierschüssel: Kohlrabi
Noch nicht ist alles stimmig hier: So ist die selbst komponierte Sauce mit ihren Körnern scharf-würzig und wohlschmeckend. Aber sie wird in einer ausgehöhlten Kohlrabi serviert, ohne dass dem Gemüse eine kulinarische Bedeutung beigemessen wird. Das fanden wir dann doch unpassend – und haben die rohe Knolle verspeist, was uns wahrscheinlich den kopfschüttelnden Kommentar „typical Germans“ eingebracht hat – jedenfalls entnehme ich das der Bemerkung von Iwan, der mit schaudernder Bewunderung fragte „you ate the Kohlrabi?“
Bemerkenswert an dem dazu gereichten Wein: Es gibt auch Rotwein aus England. Ob es den braucht, sei dahin gestellt. Vielleicht hätte er etwas besser geschmeckt, wären die Gläser etwas eleganter.

Dreiklang: Blumenkohl, Karotte, Hirsch
Natürlich die Königsdisziplin im „native“, wo mit Imogen ein Mann mit Jägerblut im Team ist. Der Hirsch (wohl gekocht und nicht gebraten) schmeckt deutlich nach Wild, ohne zu „wildelen“. Eine Aromenwucht die geschmorte Karotte, ein Traum der geräucherte und pürierte Blumenkohl – und alles amalgiert eine intensive Sauce. Mehr Gag als Geschmack das frittierte Kraut der Karotte. Aber immerhin: Es wird hier alles kulinarisch verwendet. Auf jeden Fall ein großartiger Gang, den der sich langsam aufschließende biodynamische 2015er Fitou aus dem Languedoc krönt.

Alle Achtung, Artischocke: Eis
Desserts aus Gemüse sind ja inzwischen Mode. Aber wenn das so gut wie mit diesem Artischockeneis gelingt, dann gefällt mir diese Mode auf das Trefflichste. Der nicht zu süße Gang verschafft dem zartbitteren Distelgewächs zusammen mit den feinen Crumbles einen souveränen Auftritt. Interessant dazu der 18-prozentige Apfel-Digestif aus Somerset. Wenn der noch etwas trockener gerät, könnte er sogar zarte Calvados-Gefühle evozieren. Ja, ja, die Engländer können auch richtig gute Sachen machen.
Viele Gänge, viele Aromen – und ein Eindruck: Es schmeckt, und es ist gut verträglich. Das ist nicht weiter verwunderlich. Denn wer konsequent die Jahreszeiten und die jeweilige Region kocht, serviert auch automatisch das, was dem Stoffwechsel am besten frommt. Also stehen demnächst Bärlauch und junger Löwenzahn auf dem Speisezettel, was die Sexualhormone aufwachen und die Frühlingsgefühle jubeln lässt.
Fazit: Eine souveräne Heimatküche, die zeigt, dass der Brexit wenigstens nicht auch noch kulinarisch in eine Katastrophe münden muss.
Und mein Fazit nach zwei Tagen im frühlingswarmen London? Eine ungemein faszinierende Stadt mit inzwischen noch gediegeneren klassischen Häuserzeilen, mit herrlich großen und kleinen Parks, mit gepflegten Gärten. Beeindruckend auch die Fülle an vorbildlich umgewandelten ehemaligen Fabrikgebäuden, etwa im Stadtteil Clerkenwell. Genau so beeindruckend die Fülle an phantasievoller neuer Architektur, die nachts effektvoll beleuchtet ist, aber auch immer stärker in ausländischer Hand ist.

Hoffentlich noch nicht verkauft: Buckingham-Palast
Nur: Was an diesem wundervollen London gehört also noch den Londonern? Wie in so vielen Metropolen können sich die Einheimischen die Stadt kaum mehr leisten – was verkehrsmäßig gigantische Pendlerströme mit katastrophal überfüllten Zügen zur Folge hat. Und was politisch zu einer immer stärkeren Entfremdung führt – und der Brexit ist dafür sicher auch eine Konsequenz.
London den Londonern Aber vielleicht holen sich die gewitzten Londoner ihre Stadt wenigstens in Teilen wieder zurück – und vertrauen stärker auf die eigenen Stärken. So wie es Köche wie Iwan machen, die zeigen, welche Kraft im Einheimischen steckt. Das wäre doch eine gelungene Allianz: Die Einheimischen gehen verstärkt dahin, wo´s heimisch ist: Ins „native“.

Ob er ankommt? ARRIVA-Bus in London
Unfassbar, was sich die Deutsche Bahn leistet: Sie betreibt als „ARRIVA“ in London Busse, statt die Kräfte zu bündeln, um in Deutschland endlich pünktliche und ordentlich gewartete Züge fahren zu lassen.
„native“
Adresse: 32 Southwark Street, London Bridge, London, SE1 1TU
Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag mittags und abends geöffnet
Kontakt: www.eatnative.co.uk