„Ernst“: Rohköstlich!

„Ernst“: Rohköstlich! 612 300

„Ernst“: Rohköstlich!

Das Echt essen-Gasthaus im April: Über 30 Minigerichte serviert das auf Monate ausgebuchte Berliner Lokal. Beste Produkte, fast roh oder nur leicht bearbeitet. Faszinierend und höchst bekömmlich

Trist ist’s. Hier im Wedding, wo Deutsch eine Fremdsprache und die Geschäfte geschlossen oder billig sind. Ausgerechnet in dieser Hartz-4-Hochburg steht das spannendste der an spannenden Restaurants überquellenden Food-Metropole Berlin, das „Ernst“. Abweisend von außen, blickdichte Fenster, kein Name, keine Hausnummer. Nur eine Klingel, auf die erst Punkt 19 Uhr 20 reagiert wird. Aber dann: Ein herzlicher, persönlicher Empfang von der Crew mit Handshake.

Ja, das ist ein Sterne-Restaurant: „Ernst“

Drinnen ist’s wie draußen: Mönchisch karg, Rohputz, Stahl, keine Bilder, kein Schmuck. Nichts lenkt hier von dem ab, worum es einzig geht: Konzentration aufs Essen. Und das ist fordernd: Rund 30 Gänge werden in über drei Stunden in einer meisterhaften Choreographie von den sechs Küchenwerkern für die maximal zwölf Gäste serviert, die an einer L-förmigen Theke aus hellem Ahorn sitzen. Auf Monate ausgebucht ist das schon kurz nach der Eröffnung Michelin-besternte Lokal, obwohl die Preise auf 3-Sterne-Level liegen: 185 Euro kostet das Menü, plus 105 Euro für die Weinbegleitung – selbstverständlich vorab zu bezahlen, was das häufig beklagte Problem der „No Shows“ elegant löst.

Teil des Teams (links): Dylan Watson-Brawn

Auslöser des Hype: Dylan Watson-Brawn, ein Kanadier, der mit seinen 25 Jahren eine einzigartige Küchenlaufbahn geschafft hat: Mit 17 Kochlehre als erster Nicht-Japaner in einem renommierten Tokioter 3-Sterne-Haus. Danach kurz im Kopenhagener „Noma“ und im New Yorker „Madison Eleven“, die zu den weltbesten Restaurants gehören. Nach Berlin kam er vor sechs Jahren, machte Furore mit einem Privatlokal und eröffnete 2017 mit dem Sommelier Christoph Geyler und seinem Partner Spencer Christenson das „Ernst“, was inzwischen im Ausland als wichtigstes deutsches Restaurant gilt. Sehr zum Leidwesen deutscher Spitzenköche, die zwar großartig kochen, allen voran Sven Elverfeld, Nils Henkel, Joachim Wissler, die aber international kaum bekannt sind.

Still, fast schüchtern ist der nur englisch sprechende Mann aus Vancouver, der aber mit wachen Augen alles im Blick hat. Ihn hat wesentlich die japanische Küche geprägt, wo der Koch hinter das exzellente Produkt zurücktritt. Deshalb konzentriert sich das „Ernst“ ganz stark auf die Suche nach besten Viktualien. Die kommen zu einem Großteil aus dem Berliner Umland von kleinen Produzenten. Aber hier sind keine Regionalrigoristen am Werk, sondern es wird auch Bestes von weiterher geschätzt, etwa an unserem Abend Fisch aus der Bretagne.

Es ist angerichtet: Rhabarber, Dashi, Pfefferschotenstaub

Mit winzigen Miniaturen startet der Abend: Etwa ein ungemein intensiver, selbst gemachter Käse von der Milch einer alten Kuh aus der Uckermark, wo Pflaumenblüten den Kick geben. Oder, fast schon frech, eine Stange zarter Rhabarber, leicht aromatisiert mit Dashi und Pfefferschotenstaub. Dashi? Ja, diese aromatische Fischsauce hat in Japan die Funktion, die bei uns früher die Sahnesaucen hatten – die Elemente eines Tellers kongenial zu amalgieren. Selbstredend sind im „Ernst“ diese Saucen selbst gemacht. Ach ja, das zarte Frühlingsgemüse schmeckt pur wunderbar – im Ernst!

Ikebana der feinen Art: Kartoffelkörbchen mit Karamellcréme

Fast im Minutentakt folgen weitere Gerichte, werden kurz angekündigt, wobei vieles auf Englisch geschieht – und es hilfreich ist, wenn jemand es besser versteht als ich (bei mir war es mein Nachbar, der was mit IT macht). Kaum bleibt Zeit, die Kreationen zu würdigen, etwa die filigranen Kartoffelkörbchen mit hinreißender Karamellcréme. Manches gerät auch banal, wie der fast rohe Brokkoli, umwickelt mit einem Spinatblatt.

Eins wird schnell klar: Das ist hier kein gemütlicher Plausch mit Freunden, das erfordert konzentriertes Essen und Trinken. Denn neben den vielen Speisen kommen auch großartige Weine auf den Tisch, ausgewählt von Christoph Geyler, langjähriger Sommelier in der legendären „Weinbar Rutz“ in Berlin. Einen Schwerpunkt legt der gebürtige Freiburger auf Naturweine, also Weine, die spontan vergoren, wenig geschwefelt, vielfach biodynamisch sind und oft nicht dem gängigen Geschmacksbild entsprechen. In Deutschland haben diese Tropfen nur eine geringe Anhängerschaft, während sie im Ausland auf das Höchste gerühmt werden. Etwa der feinwürzige Mosel-Riesling vom Weingut Trossen, den es zu den Erbsen gibt.

Dreifacher Paukenschlag: Erbsen, Mandeln, Olivenöl

Ein Gericht, das die „Ernst“-Philosophie genial bündelt: Italienische Erbsen und Mandeln, verfeinert mit geräuchertem Olivenöl – und angerichtet auf einem handwerklich gefertigten Teller. Das schmeckt unfassbar gut – und das lässt natürlich die berechtigte Frage zu: Ist das Kochen? Ich denke schon, weil halt alles stimmt, genau die richtigen Erbsen, die Mandeln und das wunderbare Olivenöl. „Reduce to the Max“, lautete einmal der Slogan einer Autowerbung. Er könnte auch das Motto sein von Watson-Brawn, der offensichtlich so lange an den Gerichten arbeitet, bis er nichts mehr weglassen kann.

Japanischer Eierstich mit Bärlauch: Chawanmushi

Natürlich gab’s auch Bärlauch – und natürlich in einer höchst einfachen und gerade wohl deshalb raffinierten Variante: Als Chawanmushi, was ich noch nie gehört habe und trotzdem schon gegessen habe. Es ist eine Art japanischer Eierstich mit Dashi – und hier mit dem frittierten Bärlauch. Wenn ich das Foto betrachte, muss ich leicht den Kopf schütteln: Das sieht so schlicht aus – und das schmeckt so gut.

Roh, Roher, „Ernst“: Sashimi von der Scholle

Wie im Rausch, aber perfekt choreografiert, kommen die Teller auf den Tresen: Fenchel vom Gemüse- und Kräuter-Guru Olaf Schnelle, mit einer Sauce von Steinbutt-Rogen. Ich mag diesen fast schon aufdringlich intensiven Geschmack, aber ich kenne genügend Leute, die hier nur den Kopf schüttelten. Kein Zweifel, das ist was für Liebhaber des grenzgängigen Genusses. Weiter: Herrlich fetter Schinken vom Wiener Mangalitza-Schwein, aromatisiert mit 80!-prozentigem Trester. Ein puristisches Sashimi von der Scholle, ein Gedicht für Liebhaber von rohem Fisch. Überhaupt roher Fisch. Wer den liebt, und in bester, original japanischer Qualität zu bezahlbaren Preisen genießen möchte, kann in dem kleinen Düsseldorfer Lokal „Yoshi“ fürs „Ernst“ üben.

Verwegen kombiniert: Orange mit Radieschen

Plötzlich steht vor uns eine Art Sorbet: Sizilianische Blutorangen, zart aromatisiert mit der Fischsauce Dashi (ja, das passt!), dazu hauchdünnst geschnittenes Radieschen, was nur mit speziellen Messern geht. Die japanische Küche arbeitet ja ganz stark mit Messern – und der junge Meisterkoch hat seine Lektionen bei den japanischen Meistern offensichtlich gut gelernt. Auch hat er dort gelernt, dass es wichtig ist, dem Gast keine Rätsel aufzugeben, wie es viele Köchen machen, die mit Schäumchen verwirren, wo erklärt werden muss, was es ist. Bei Dylan Watson-Brawn (DWB) ist eine Orange eine Orange und ein Radieschen ein Radieschen. Punkt.

Perfekt passt dazu der Aligoté, eine leichte Burgundersorte, hier vom Vorzeigeweingut „De Moor“. Überhaupt die Weinbegleitung, sie wird durchgängig in den ultradünnen und filigranen Zalto-Weingläsern serviert, ein Luxus, den sich nur wenige Restaurants leisten, sind doch diese teuren Gläser extrem bruchgefährdet. Auch die Weine selbst sind von ausgesuchter Raffinesse – und kosten oft schon im Einkauf um die 15 bis 30 Euro, weshalb die 105 Euro für die Vielfalt der Tropfen bestens angelegt sind.

Schwimmt in einer Fischreduktion: Glattbutt

Großartig die fein geschnittene isländische Muschel, gebettet in ihren eigenen Saft mit etwas Zitrone. Nur leicht gegrillt auf einem kleinen japanischen Grill ist dieses wunderbare Produkt. Wobei dieser Grill das wohl wichtigste Arbeitsgerät dieser schlicht-raffinierten Küche ist. Interessant der nächste Gang, Postelein, benetzt mit dem Sud der vorher servierten Muschel.

Mir werfet nix weg Es scheint, dass die „Ernst“-Leute sehr darauf achten, alles zu verwerten, was im Kochprozess anfällt – ein höchst zukunftsträchtiger und nachhaltiger Ansatz. Das funktioniert, weil hier höchst flexibel nach Marktlage gekocht wird, weshalb das Menü auch praktisch täglich wechselt. Ein Traum der gedämpfte Seehecht (englisch Whiting, spanisch Merluza) im Dashi-Sud. Feines Detail: Die Löffel sind leicht angewärmt.

Ach du dickes Ei: Von der Ente in Bärlauch serviert

Vier Stunden wird das Enteneigelb bei 64 Grad erwärmt, sodass es fast fest ist. In Bärlauch eingewickelt, entwickelt es zusammen mit dem Dashi einen höchst intensiven Geschmack. So ein vielschichtiges Gericht würde ich gerne in Ruhe mit allen Sinnen genießen – und ich bin überzeugt, dass DWB irgendwann die überbordende Fülle an Gerichten wieder reduzieren wird, sodass eine bessere Konzentration für das Gebotene möglich wird. Aber vielleicht ist die Fülle auch notwendig, weil die Küche praktisch ohne die dick machenden Kohlenhydrate (etwa Brot) auskommt, was sie in den ernährungsphysiologischen Himmel hebt.

In Entenfett gegart: Salzgraslamm

Einen raren 2007er Sancerre vom Weingut Auksinis füllt nun Christoph Geyler in die zarten Gläser. Der trocken-mineralische Wein begleitet bestens den gedämpften Glattbutt, die Sprossen vom Rosenkohl. Ein Gedicht, jedenfalls für Freunde der Innereien, das in Sake eingelegte Bries mit einer grandiosen Sauce aus fermentierten Pilzen. Ein etwas zu tanniniger Cabernet Franc leitet über zu einem der Highlights des Menüs: Ein in Entenfett gegartes Husumer Salzgraslamm, das fünf Jahre Zeit hatte, seinen vollen Geschmack zu entwickeln, der von einer höchst intensiven Sauce aus den Knochen wirkungsvoll unterstrichen wird.

Weltweit begehrt: Cidre aus dem Schweizer Jura

Äußerst angenehm die Desserts, die wenig süß schmecken, etwa ein zart angegrilltes Zitronensorbet. Ein Schmankerl der Extraklasse zaubert Christoph Geyler zu den Nachspeisen: Einen birnigen Cidre von der weltweit begehrten Cidrerie du Vulcain aus dem Schweizer Jura, der so vollmundig schmeckt, wie das Etikett wimmelwitzig gestaltet ist. So richtig weiß ich nicht mehr, was es als Desserts alles gab, nur dass etwas aus der seltenen Briesmilch (Kolostrum) dabei war, dass ein aus Feigenholz gewonnenes Eis auf dem Tisch stand – und dass zu guter Letzt der Klassiker Meringue serviert wurde, natürlich „Ernst“-mäßig raffiniert: Aus Enteneiweiß, dazu dezente Maulbeermarmelade und Kirschenwürfel.

Party und Magie Aber das spielt schon keine wirkliche Rolle mehr, denn plötzlich löst sich alle Spannung, alle Konzentriertheit. Alle reden miteinander, die Gäste untereinander – und alle mit der Crew. Kurze Zeit ist Party, bevor es langsam in die kühle Berliner Luft geht – wo sich dann das Bonjour Tristesse des Weddings auf dem Weg zur U-Bahn in eine Bonne Nuit Magique verwandelt.

Minimalistischer Rausschmeißer: Meringue aus Entenweiß

Habe ich nun die Neuerfindung der Küche erlebt? Natürlich nicht. Ein Menü mit über 20 Gängen hatte auch schon Joachim Wissler vom „Vendome“ in Bergisch-Gladbach im Angebot. Nicht zu vergessen das sagenhafte „Amuse-Bouche-Menue“ vom Drei-Sterne-Großmeister Dieter Müller, wo immer köstliche Miniaturen um ein Thema (etwa Gänseleber) serviert wurden. Auch ist die Idee, stark Natur-belassenes zu servieren ein Déjà-vue, hatte ich doch schon vor über zehn Jahren zusammen mit dem kreativen Fischkoch Markus Gruler von der „Seehalde“ am Bodensee ein „Wild Things“ genanntes Essen kreiert, wo wir urtümlich mit heimischen Beeren und Kräutern arbeiteten.

Vollendet ist die Art der „Ernst“-Küche im auch von DWB geschätzten „Willows Inn“ im US-Staat Washington zu erleben. Vollendet deshalb, weil das Restaurant auf Lummi Island kurz vor der kanadischen Grenze auf superfrische Realien direkt von der Insel und dem umliegenden Meer zurückgreifen kann – und weil die „Küche“ im wesentlichen im Freien ist, wo ganz archaisch Grills und Räucheröfen stehen.

Wirklich etwas ganz Besonderes ist die „Ernst“-Küche – und das habe ich in seiner vollen Tiefe erst am nächsten Tag begriffen: Denn selten habe ich mich so wohl gefühlt, nichts drückte, keine Übersäuerung, kein Aufstoßen, wahrscheinlich, weil kaum Kohlenhydrate gereicht werden. Nur die pure Vitalität, ich sprühte vor Energie, joggte erst einmal eine Stunde im wunderbaren „Sportpark Moabit“ – und spürte auch eine ungeheure Frische des Geistes und alle Gedanken an die Höhe der Rechnung waren schlagartig verflogen.

Handgeschrieben und hoch: Rechnung

Health Food Keine Ahnung, ob die „Ernst“-Leute über das Thema Bekömmlichkeit bei ihren Kompositionen nachdenken. Jedenfalls ist die Kombination aus den frischen, nur dezent „gekochten“ Protein-starken Produkten mit ihren Dashi und zitronigen Ponzu-Suden, den sehr bekömmlichen Naturweinen wohl eine unschlagbare Muntermach-Küche. Würden auch andere Gäste diesen Eindruck bestätigen, dann hätte das „Ernst“ ein großartiges Alleinstellungsmerkmal: Great taste gives great Health!

Fazit: Witzigmanns visionärer Satz „Das Produkt ist der Star“ wird hier wahr.

Bravo, Guide Michelin, so einem radikalen Konzept nach so kurzer Zeit einen Stern zu verleihen!

Danke, Anne, dass Dein Geburtstagsgeschenk mir den Besuch dieses außergewöhnlichen Lokals ermöglicht hat.

„Ernst“

Adresse: Gerichtsstraße 54, 13 347 Berlin

Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag ab 18 Uhr 30

Kontakt: Kein Telefon. Buchung nur per Mail über www.ernstberlin.de was aber nicht einfach ist. Am Besten den Newsletter abonnieren oder das Lokal auf Instagram verfolgen. Da wird angekündigt, wann die Homepage wieder für den nächsten Buchungszyklus freigeschaltet wird. Dann heißt es: Zügig buchen.

Gast mit Crew: Thanks for a fascinating evening!

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