Be Biedermeier!
Die Innerlichkeit ist zurück: Was ich vor sieben Jahren gewünscht habe, propagiert jetzt der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte: Die Gemütlichkeit des Biedermeier
„Zucker zähmen“ heißt mein 2013 erschienenes Buch, wo erstmals die fünf besten Therapien bei Typ-2-Diabetes zusammengefasst worden sind. Von der Änderung des Lebensstils, über Heilpflanzen und Mikronährstoffe bis hin zu Medikamenten. „Ein ganzheitlicher Therapieansatz“, nennt der renommierte Düsseldorfer Diabetologe Prof. Dr. med. Stephan Martin das Buch, das ich mit Ärzten und Wissenschaftlern verfasst habe.
„Be Biedermeier“ heißt das Schlusskapitel. Darin beschreibe ich die Jahre von 1815 bis 1845 – eine Zeit, die zu den glücklichsten der deutschen Geschichte gehört. Eine Zeit, wo die Hausmusik ihren großen Auftritt hatte, wo die schützende Gemütlichkeit geschätzt wurde, wo das Weihnachtsfest in seiner bis heute bestehenden Form geboren wurde.
Es war eine Zeit, wo der fiktive schwäbische Dorfschullehrer Gottlieb Biedermeier nach geordneten Ritualen lebte: Er hatte seinen festen Stundenplan für die Schule; er hatte seine festen Zeiten, wo er in der Kirche Orgel spielte; er hatte seinen Garten, wo er alles Lebenswichtige im klugen Rhythmus der Jahreszeiten anbaute – und er nahm seine Mahlzeiten zu festen Zeiten ein.
Als Spießbürger wurde der mit sich im Reinen lebende Gottlieb Biedermeier von besserwisserischen Literaten verspottet. Doch in Wirklichkeit praktizierte er genau das, was die moderne Medizin propagiert, um der explosionsartigen Ausbreitung des Lifestyle-Diabetes und der zunehmenden nervlichen Überforderung der Menschen zu begegnen: Ein Leben nach festen Ritualen, ein Leben, das sich dem immer Schneller, dem immer Weiter entzieht; ein Leben, das sich nach geordneten Strukturen sehnt.
Die Sehnsucht nach geordneten Strukturen ist auch derzeit wieder übermächtig. Überall brechen Gewissheiten zusammen. Täglich ändern sich Wahrheiten oder Nichtwahrheiten über unberechenbare Viren. Politische Konstellationen sind fragiler denn je. Immer intensiver wird Geld, das niemand hat, eifrig gedruckt – und immer mehr Leute fragen, wo das endet. Vielleicht in einem neuen Biedermeier.
„Erleben wir ein neues Biedermeier?“, orakelt denn auch der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte vom 7. September 2020 – und berichtet von einem überbordenden Interesse an Kleingärten, berichtet von Menschen, welche die Vorzüge des Landlebens entdecken; berichtet von den beherzten Versuchen, endlich mehr Grün in die immer überhitzteren Städte zu bringen; berichtet von Architekten, die an pandemieresistenten Gebäuden arbeiten, wo künftige Hygienemaßstäbe quasi eingearbeitet sind.
Wird nun alles gut? Automatisch sicher nicht. Schon fangen Berliner Gerichte an, die mutigen Pop-Up-Fahrradwege wieder zu verbieten. Es wird nicht das letzte Mal sein, wo die mächtige deutsche Autolobby zurück schlägt, wo versucht wird, Kopenhagener Zustände zu verhindern. Zustände, wo das Auto zwar nicht verteufelt wird; wo es aber auch nicht mehr die Hauptrolle spielt, sondern wo Fahrrad und Fußgänger zum Maß der Verkehrspolitik werden. Natürlich dauert das.
Langfristig wird sich aber der Drang zur grünen Gelassenheit durchsetzen, wird Gottlieb Biedermeier einen späten Triumph erfahren. Einen Triumph, den er mit der ihm eigenen Bescheidenheit feiern wird: Erst im eigenen Garten die Tomaten gießen und anschließend in der Kirche auf der Orgel den Choral anstimmen: „Großer Gott wir loben dich“.