„100 200“: 100 Prozent intensiv

„100 200“: 100 Prozent intensiv 2560 1920

„100 200“: 100 Prozent intensiv

Das Hamburger Restaurant mit einem ganz eigenen Design serviert eine unverwechselbare Regioküche: Umami-intensiv und Säure-satt 

Es gibt schönere Orte in der Hansestadt: Triste Straßen, LKW-Parkplätze, wilde Industriebrachen, eine unfassbar laute und breite Schnellstraße. Die Verkehrswende ist noch etliche Zeitenwenden entfernt. Ausgerechnet hier nahe dem Großmarkt haben 2017 Thomas Imbusch mit seiner Frau und Geschäftspartnerin Sophie Lehmann ihr Restaurant gegründet.

Szenenwechsel: Eine sorgfältig renovierte alte Lagerhalle mit IT- und Softwarefirmen. Eine Klingel – und ab geht es per Lift in den dritten Stock, wo ein äußerst freundlicher Empfang sofort Wohlgefühl verbreitet. Staunen und natürlich zur Fensterfront eilen, um auf Brücken, Kanäle, Schiffe und Züge zu schauen. Nichts ist kaschiert, breite Lüftungsrohre, roher Putz, aber wuchtige, einladende Holztische. Alles ist großzügig gruppiert um einen klaren Mittelpunkt: Ein mächtiger französischer Molteni-Herd, Kultmarke der Spitzenköche – und so erklärt sich auch der kryptische Name: Wasser kocht bei 100, der Herd wird auf 200 Grad geheizt.

 

Innen einladend, außen verkehrstrubelig: „100 200“

Das Design und der Herd signalisieren eindeutig: Hier geht es nicht um Schnickschnack, hier wird auf den puren und intensiven Punkt gekocht. Natürlich schlägt hier die Saison den Takt. So gab es im Sommer ein von der Kritik in höchsten Tönen gelobtes Gemüsemenü. Bei meinem Besuch stand unter dem Motto „Feuer und Rauch“ Wild auf dem Speisezettel – und im Frühjahr folgen dann Rind und das in Hamburg naheliegende: Fisch.

Angenehm: Die männlichen Servicekräfte stellen sich persönlich vor, dezent angeleitet von der Wirtin und Sommelière Sophie Lehmann, die ursprünglich als Köchin angefangen hat. Auch angenehm: Es läuft deutlich erkennbare und hörbare Musik, sozusagen das Beste der 70er, 80er und 90er Jahre, wie etwa „The Beat goes on“. Das stört nicht, weil der hohe Raum das locker trägt.

Feuer und Rauch: Butter und Brot

Selbst gebacken selbstredend das leicht rauchige Sauerteigbrot, zu dem eine aufgeschlagene, raffiniert mit Ziegenquark verfeinerte Butter gereicht wird, wo auch noch Chili, Rosmarin und Schnittlauch dezente Schärfe beisteuern. Standard in diesem Gasthaus ist die einleitende Sensibilisierung der fünf Geschmackssinne Süß, Sauer, Salzig, Bitter und Umami durch kleine Häppchen, wobei mich besonders der intensive Umami-Geschmack begeistert, kreiert aus Käsebrühe und einer speziellen Alge.

Reh raffiniert serviert: „Tatarisiert“

Leicht angebraten und dann zu Tatar verarbeitet ist das Reh aus Schleswig-Holstein, serviert mit geräucherter Rote Bete – und irgendwo verströmt auch noch eine Rose ihren zarten Duft. Aufregend das begleitende Getränk, ein Cidre aus Dänemark, bei dem der Saft zuerst gefroren wurde, um dann das hochkonzentrierte „Auftauwasser“ zu sammeln, was kongenial zum Gericht passt.

Ein eigener Geschmackskosmos: Badischer Chardonnay

Der Höhepunkt des Menüs war für mich die Kombination aus den wohl einheimischen Krustentieren Taschenkrebs und Hummer. Die fast rohen Meeresfrüchte werden begleitet von einer Melange aus Kastanien und Käse, wobei das Ganze eine unfassbar intensive Umami-Bombe ist, die ich bis zum letzten Tropfen genossen habe. Genauso begeistert hat mich der 2019er Chardonnay Jaspis vom Kultweingut Ziereisen. Ein unfiltrierter, komplett durchgegorener Tropfen, mit 13,5 Prozent ordentlich Wumms (aber ein ehrlicher Wumms und nicht verlogener Staatswumms, wo dem Bürger in die Tasche gegriffen wird, um ihn anschließend zu „beschenken“). Nicht alles was meine Markgräfler Landsleute Hanspeter und Edeltraud (genannt „Edel“) machen, überzeugt mich. Aber dieser Wein mit seinen dezenten Rauchnoten eröffnet einen eigenen Geschmackskosmos. Chapeau!

Gekrönt von der raffiniertesten „Farfalle“ der Welt: Hirsch

Bei Christian Bau, einer der größten deutschen Köche, durchlebte (oder durchlitt) der aus dem Münsterland stammende Thomas Imbusch zwei prägende Jahre. Hier hat er die Grundlagen der immer noch stilbildenden französischen Küche aus dem Effeff kennen gelernt – und setzt sie auch ein. So gibt es hier einen Gang mit dem gallischen Nationalgericht Schnecken, wovon viele Köche (und Gäste) zurückschrecken. Aber zusammen mit Schwarzwurzeln und schwarzem Knoblauch ergibt es ein stimmiges Ganzes. Übrigens: Geändert wird nix, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Mutig!

Hohe französische Kochkunst ist auch die vor Kraft und gleichzeitig Leichtigkeit strotzende Demi-glace zum auf den perfekten Punkt gebratenen Hirsch. Soweit so üblich, aber dann begeistern zwei Highlights, die erklären, warum das 100 200 seit diesem Jahr zwei Michelin-Sterne hat: Da ist zum einen die separat gereichte Zubereitung mit Senfkörnern und Zungenragout. Und zum anderen der wie Farfalle-Pasta aussehende „Schmetterling“ auf dem Hirsch. Das ist aber knackig gegarte, marinierte Steckrübe, gefüllt mit Sardelle und Bärlauchknospen, was einen grandiosen säuerlichen Frischekick gibt.

Ein Frischekick, der auch ein verdauungsfördernder Gesundheitskick ist. Denn das Essen schmeckt hier nicht nur ausgezeichnet, sondern ist auch höchst bekömmlich. Schade, dass in Deutschland (im Gegensatz zu Frankreich) in der Spitzengastronomie Gesundheit ein Tabuwort ist. Dabei ist ein genussvolles Gesund wie hier in Hamburg die klügste Art der Prävention.

Von grazilen Champignons geschmückt: Käsetoast

Eine Art Signature Dish der Hamburger ist der Käsetoast: Ein herzhaftes Stück Brot wird mit altem Balsamico beträufelt und mit gelben Käsepunkten verfeinert, bevor feinst gehobelte Champignons de Paris den krönenden Abschluss bilden.

Einen Logenplatz, eine Art Chef´s Table hatte ich bei meinem Besuch. Direkt gegenüber dem Pass, wo alles angerichtet wird, konnte ich beobachten, welche Schwerstarbeit Spitzenküche bedeutet. Mit äußerster Konzentration verfertigt Thomas Imbusch die Gerichte. Wobei sich nach dem Toast die Anspannung spürbar löst. Plötzlich scherzt er mit seinen vier Mitköchen, worunter auch eine äußerst talentierte Köchin ist. Jetzt ist auch die Zeit, wo die Gäste in den gewünschten Austausch mit den Kochenden und Servierenden treten können, wo zwanglos geredet wird.

Natürlich erkundige ich mich bei den Wirtsleuten nach ihrem neuesten Projekt „Brandherd Esskultur Akademie“. Damit reagieren die Beiden auf den allerorts beklagten Mangel an gastronomischem Fachpersonal. Ehrgeiziges Ziel ist es, breit aufgestellte Gastronomen und Gastgeber zu formen, welche auch etwas von Betriebswirtschaft verstehen, Erzeuger kennenlernen. Klingt zart nach ähnlichen Ansätzen bei dem Schweizer Spitzenkoch Andreas Caminada und der wegweisenden „Bareiss Akademie“ im Schwarzwald. Möge dem Projekt Erfolg beschieden sein!

 

Gut drauf: Sophie Lehmann, Thomas Imbusch

Viele gastronomische Projekte, dazu drei Kinder, es ist also eine Menge zu tun. Trotzdem wirken die beiden Gastronomen erstaunlich aufgeräumt, sind sofort für ein Foto vor dem Reifeschrank mit dem aufgebrochenen Reh zu begeistern. Obwohl grundsätzlich optimistisch, kennen und erlebten sie auch die Stürme, die seit einiger Zeit über die Gastronomie fegen: Erst die Pandemie, dann fehlten die Fachkräfte, jetzt fehlen vielerorts die Gäste. Auch im 100 200 gibt es schwächere Tage, aber prinzipiell ist das Restaurant ziemlich sturmfest aufgestellt: Ein exzellenter Ruf bei Gästen und Kritikern; ein kulinarisches Konzept mit weitgehend regionalen Viktualien, was sehr zukunftssicher ist; ein leidenschaftliches, selbst ausgebildetes Team; eine eigene Immobilie, die in überschaubarer Zeit abbezahlt sein wird.

Angemessene 200 Euro kostet das Mahl pro Person. Mit 100 Euro schlägt die flott kalkulierte Weinbegleitung zu Buche. Sportliche Öffnungszeiten mit nur einem Ruhetag: Von Montag bis Samstag wird ab 18 Uhr gewirtet.

Fazit: Gastronomiekultur von morgen schon heute erleben.

Tipp: Wem schlichter Komfort genügt, findet im wenige 100 Meter entfernten Hotel „Elbbrücken“ eine passende Wohnstatt. Tagsüber empfiehlt sich ein Rundgang durch den erstaunlich grünen und aufstrebenden Stadtteil Rothenburgsort.

 

Kompliment Guide Michelin! Grüner Stern

Seit Jahrzehnten verfolge ich die Arbeit dieses wichtigsten gastronomischen Führers – und bin immer wieder verblüfft, wie es gelingt, tendenziell auf der Höhe der Zeit zu sein. So wäre vor Jahrzehnten ein Zwei-Sterne-Restaurant mit herbem Industriechic völlig undenkbar gewesen. Leider denken die meisten Menschen bei zwei Sternen immer noch an den bei deutschen Journalisten so gerne verwendeten Begriff „Gourmettempel“ mit steifen Kellnern und gestärkten Tischtüchern. Das wird sich wohl auch nicht ändern, weil die meisten Medienmenschen so ein bahnbrechendes Restaurant wie 100 200 nie besuchen werden.

Bewundernswert auch die Innovationskraft der „Roten Bibel“. Denn seit einigen Jahren verleiht sie auch „Grüne Sterne“ für besonders nachhaltig arbeitende Gasthäuser, wozu konsequenterweise auch das 100 200 gehört. 61 Betriebe umfasst die aktuelle Liste der Grünen Sterne. Sicher, über einiges ließe sich diskutieren, aber die Pariser zeigen, dass sie die Zeichen der Zeit verstanden haben. Und dass der von mir hochgeschätzte „Mohren“ im Deggenhausertal dazu gehört, freut mich besonders.

Privacy Preferences

When you visit our website, it may store information through your browser from specific services, usually in the form of cookies. Here you can change your Privacy preferences. It is worth noting that blocking some types of cookies may impact your experience on our website and the services we are able to offer.

Diese Website benutzt Cookies. Wenn du die Website weiter nutzt, gehen wir von deinem Einverständnis aus.