Genuss als Alltagskultur
Sternerestaurant und Landgasthof gehören in meiner südbadischen Heimat untrennbar zusammen – was zwei wunderbare Gasthäuser eindrucksvoll beweisen
Ein Paradies für Genießer ist die wald- und weingesegnete Landschaft zwischen Basel und Freiburg: Das Markgräflerland. Hier gelingt, was selten gelingt: Ein Miteinander von gehobener und gut-bürgerlicher Küche. Wie selbstverständlich gehen die einheimischen Badener, die benachbarten Elsässer und Schweizer heute in den urigen „Ochsen“ in Ötlingen bei Weil am Rhein und morgen in die Blansinger „Traube“, wo Einheimisches in den Sterne-Himmel verzaubert wird. Ein einzigartiger kulinarischer Reichtum, dessen vielfältige Facetten ich immer wieder gerne genieße.
Strahlt hell in dunklen Zeiten: „Hirschen“
Wie faszinierend dieser spannungsvolle Spagat sein kann, habe ich neulich erlebt: Am ersten Abend tafelte ich im traditionsreichen „Hirschen“ im schmucken Städtchen Sulzburg bei Staufen. Hier bin ich vor Jahrzehnten oft eingekehrt, um die französische Spitzenküche der Familie Steiner zu goutieren. Inzwischen hat die Tochter Douce Steiner mit ihrem Mann Udo Weiler das Restaurant mit einer eigenständigen Küche zu neuen Höhen geführt, weshalb hier zu recht seit zehn Jahren wieder zwei Sterne funkeln. Am zweiten Abend besuchte ich den wunderbaren „Heinehof“ von Barbara und Valentin Sonner, wo ich mich auf die Schlachtplatte mit Fleisch und Wurst vom eigenen Vieh freuen konnte.
Schwimmt auf Kaviar: Konfierter Lachs
„März-Glückseligkeit“ heißt ein legendärer Abend, zu dem Hirschen und das Traditionsweingut Dörflinger aus dem nahen Müllheim gemeinsam einladen. In Windeseile sind die vier Abende für 260 Euro pro Person immer ausverkauft, obwohl in den beiden eleganten Gasträumen jeweils rund 50 Gäste Platz finden. Neben den sieben exzellenten Gängen sind die gereichten Weine ein wesentlicher Grund für die Beliebtheit der „Glückseligkeit“. Denn es werden vor allem gereifte Tropfen serviert, was es leider sehr selten gibt, werden doch die meisten Weine viel zu jung getrunken.
So begeistert ein wuchtig-eleganter 2018er Weißburgunder Spätlese vom Badenweiler Römerberg – und balanciert mustergültig den perfekt konfierten Lachs, der auf einem Meer von Imperial- und Forellenkaviar schwimmt, und dem Sauerklee noble Säure schenkt.
Auf Brunnenkresse-Coulis gebettet: Wildkräuterravioli
Aromenstark ist die Küche von Douce Steiner, wo ein Coulis (eine Art Püree) von Brunnenkresse die Basis für formidable Wildkräuterravioli bietet – und wo würzig-bunte Blumen Augen und Gaumen erfreuen. Für mich der spannendste Gang des Abends. Phantastisch dazu der 2015er Chardonnay Spätlese Barrique vom Müllheimer Reggenhag. Ein Wein, der locker mit seinen burgundischen Vorbildern mithält – und dabei nur einen Bruchteil der Franzosen kostet.
Natürlich gibt es diese Tropfen längst nicht mehr im über 100 Jahre alten Müllheimer Weingut, das berühmt für seine durchgegorenen und bekömmlichen Weine ist.
Das gilt selbstverständlich erst recht für die grandiose 1999er Weißburgunder Spätlese, die auch nach über 20 Jahren nichts von ihrer lebendigen Säure verloren hat. Glücklich darf sich schätzen, wer so etwas rechtzeitig gekauft und eingelagert hat. Den Weißburgunder gab es zu einer hochintensiven Bouillabaisse, in der sich Meeresfische wie Rotbarben ein Stelldichein gaben.
Küchenklassiker modernisiert: Bresse Poularde mit Wirsing
Außergewöhnlich ein reiner Pilzgang mit einem Fokus auf Steinpilzen und einer betörend würzigen Creme von Totentrompeten. In der französischen Hochküche wurzelt Douce Steiners Küche, aber längst hat sie sich davon emanzipiert, serviert zwei vegetarische Gänge (wobei Pilze streng genommen kein Gemüse sind) und verleiht einem französischen Klassiker einen überraschenden Dreh: Die getrüffelte Brust von der Bresse Poularde veredelt ein frittiertes Wirsing-Blatt. Ganz klassisch dafür die separat servierte Trüffelessenz unter der Blätterteighaube.
Fein angerichtet ist das alles, aber es ist gottlob keine exaltierte Pinzettenküche. Hier wird für den Geschmack der Gäste und nicht für eine effekthaschende Instagram-Gemeinde gekocht.
Hermann Dörflinger junior, der mit seiner Schwester Anne für den Fortgang der Dörflinger-Familientradition steht, moderierte sympathisch-souverän den Abend. Ein Höhepunkt der Weinreise ist der leider einzige Rote des Abends, ein 2016er Spätburgunder Barrique vom Badenweiler Römerberg. Wer bei den Dörflingers bestellt oder noch besser das gastliche Weingut besucht, nimmt natürlich den spritzig-erfrischenden Gutedel mit – und deckt sich am besten noch mit den formidablen Magnum-Flaschen ein, etwa vom 2020er Merlot oder Spätburgunder. Ein überzeugenderes Preis-Leistungs-Verhältnis wird in Deutschland selten zu finden sein.
Zufriedene Gastgeber: Douce Steiner, Udo Weiler
Selbstredend vollendet das fulminante Menü ein Dessert-Feuerwerk, das ich aus bekannten Gründen ausgelassen habe, obwohl sie nur wohldosiert gesüßt waren. Ich durfte mich dafür an einer kundig zusammengestellten Auswahl bestens gereifter Käse gütlich tun. Und natürlich probierte ich von der sagenhaften 2001er Grauburgunder Auslese, die süß schmeckt, obwohl sie durchgegoren ist – ein Effekt, der sich dem Pilz Botrytis verdankt.
Begeisterten Applaus ernten die sympathischen Köche Douce Steiner und Udo Weiler bei ihrem Gang zu den Gästen für ihr klug komponiertes, wohl verträgliches Menü. Einen Applaus, den sie gerne auch mit ihrer rund 20 Personen großen Mannschaft teilen, die ebenfalls vorgestellt wird. Motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiter sind in Zeiten des Fachkräftemangels das wohl wichtigste Kapital der Gastronomie. Als ich mich in der Küche mit der weltoffenen Köchin unterhalte, registriere ich eine fast familiäre Atmosphäre und einen angenehmen Umgangston. Es sieht so aus, als wäre dem sympathischen Hirschen eine wohlbestellte Zukunft beschieden.
Gediegen nächtigen lässt es sich im zugehörigen Hotel. Wer dort nichts findet, dem empfehle ich das nahe gelegene „Dormitorium“, ein ehemaliges Kloster, das stilsicher zur Herberge umgebaut wurde. Direkt neben dem Hotel liegt St. Cyriak, eine der ältesten Kirchen Deutschlands, eine romanische Basilika von ergreifender Schlichtheit.
In der Ruhe liegt die Kraft: St. Cyriak
Eine gute halbe Stunde dauert die Fahrt mit dem Auto (etwas länger mit dem Bus) von Sulzburg nach St. Ulrich. Der Weg führt über das pittoreske Staufen mit mächtiger Burg und dem höchst empfehlenswertem Café Decker, wo die legendäre Schwarzwälder Kirschtorte lockt. Hinter Bollschweil mäandert der Weg gemütlich durch den Wald ins abgeschiedene St. Ulrich, wo „Sonnners Heinehof“ mit seinen gastfreundlichen Wirtsleuten Barbara und Valentin Sonner wartet.
Wo die Welt noch in Ordnung ist: Herrgottswinkel
Richtig ans Herz gewachsen ist mir dieser Landgasthof, verkörpert er doch idealtypisch, was für mich ECHT ESSEN ausmacht: Eine zukunftsträchtige ökologische Landwirtschaft mit eigenem Vieh, eigenem Fleisch und Wurst, eigenem Wein und ab Herbst wieder 300 eigenen Gänsen und vor allem einer eigenen Kapelle. Gekocht wird best-bürgerlich von der eigenen Familie und das alles zu höchst zivilen Preisen. Ausführlich vorgestellt habe ich den Heinehof im August 2020 – und ich empfehle ausdrücklich die Lektüre dieser Geschichte.
Ein glücklicher Zufall fügte es, dass direkt nach der „Märzen-Glückseligkeit“ im Heinehof Schlachttag war. Und da ich als Kind mit Schlachtplatten aufgewachsen war, musste ich natürlich hinfahren. Zwei Schweine und eine Kuh hat Valentin Sonner schlachten lassen – und daraus hat sein Metzger köstliche Würste und saftiges Fleisch fabriziert.
Eines meiner Lieblingsgerichte: Schlachtplatte
Zum Einstieg bestelle ich eine herrlich heiße Metzelsuppe, das ist eine Brühe, die bei der Wurstherstellung anfällt. Darin schwimmen kleine Fleischstücke und geröstete Brotbrösel. Bescheidene 15,80 Euro kostet die Schlachtplatte, wo mich bestens gewürzte Blut- und Leberwurst glücklich stimmen. Saftig das Kesselfleisch, dessen Fett ich mir auf der Zunge zergehen lasse. Wie es sich gehört, ist das Sauerkraut fein säuerlich und statt dem ordentlichen Kartoffelstock probiere ich lieber das von Barbara Sonner gebackene, kräftige Bauernbrot. Gereicht wird dazu eine feine Meerrettichsauce. Prächtig mundet mir der familieneigene, süffige Gutedel für 4,80 Euro das Viertele.
Reichlich Auslauf und Platz: Heinehof-Hühner
Seit meinem letzten Besuch ist Sohn Samuel auf den Hof gekommen, der ein fundiertes Studium der Landwirtschaft absolviert hat – und ursprünglich andere Pläne hatte. Aber das Virus. Natürlich ist auch er ein echter Sonner, also einer, der anpacken kann, und der in Windeseile die Kühe im Stall mit frischem Heu versorgt. Schon immer gab es Hühner auf dem Hof. Aber Samuel denkt größer – und hat einen ehemaligen Transporter zu einem Hühnermobil für 250 Hennen, die vom Züchter Lohmann stammen, umgebaut. Drei Mal am Tag schaut er nach dem Federvieh, das auf mich einen enorm gesunden Eindruck macht, und holt die phantastisch schmeckenden Eier.
Hell, elegant, solide: Verkaufsstand
Schon immer gab es auf dem abgelegenen Heinehof einen kleinen Laden. Aber der handwerklich geschickte Samuel hat an einer viel befahrenen Straße ein solides Häuschen geplant und gebaut, wo ein moderner, gekühlter Automat für die Kunden gut erreichbar ist. Eine wahrscheinlich rentable Investition, denn in volatilen Zeiten ist für viele die Versuchung groß, den fälligen Obolus ohne Zwang zu entrichten. Unbedingt mitnehmen würde ich den saftigen, wunderbar geräucherten Schinken, den aromatischen Speck, die grandiosen Hackfleischküchle – und natürlich die Eier.
Es sieht so aus, als wäre auch dem Heinehof eine wohlbestellte Zukunft beschieden. Wenn denn die Zukunft Zukunft werden darf.
Fazit: Ein Labsal für die Seele sind die zwei Tage in der wenigstens äußerlich scheinbar heilen Welt des Schwarzwaldes in diesen trubligen Tagen.