„Genussführer“: Gasthäuser, die ihre Produkte kennen
Regionale, handwerkliche Lebensmittel sind das wichtigste Kriterium für den von Slow Food verfassten Essensführer. Ein zukunftsweisender Ansatz
Endlich ist er wieder da – und er ist wichtiger denn je: „Der Slow Food Genussführer 2023/24“. Denn alle in dem Kompendium vorgestellten 470 Gasthäuser erfüllen eine wichtige Bedingung: Sie arbeiten mit Lebensmitteln, die nach drei Kriterien produziert werden, nämlich „Gut, sauber, fair“. Das hört sich wenig prickelnd an, ist aber eine kleine Revolution in der Gastronomie. „Gut“ meint, es muss vielfältig und gesund schmecken; „sauber“ ist am wichtigsten und meint Gemüse, Fleisch, Getränke, Backwaren, die weitgehend artenschonend und handwerklich produziert werden; „fair“ heißt, die Erzeuger und Gasthäuser müssen davon leben und ordentliche Löhne zahlen können.
„Gut, sauber, fair“ sind die Grundlagen von Slow Food, eine in Italien als Gegenbewegung zum Fast Food 1986 gegründete Bewegung, die inzwischen weltweit rund 80 000 Mitglieder hat. In Deutschland gehören dazu rund 14 000 Menschen, organisiert in 85 lokalen Gruppen, die sich Convivien nennen, was sich mit Gastmahl übersetzen lässt. Innerhalb der Convivien gibt es Genussführer-Gruppen, die sich um die Auswahl der Gasthäuser kümmern – und die nach klaren Vorgaben arbeiten, so dürfen auf der Speisekarte bestimmte Produkte nicht auftauchen, etwa der vom Aussterben bedrohte Aal.
Mit einzigartiger Gründlichkeit werden die Lokale unter die Lupe genommen. Eine Gründlichkeit, die sich radikal unterscheidet von den beiden anderen Führern Guide Michelin und Gault&Millau, wo meist nur eine Person nach einem oder mehreren Besuchen über die Bewertung entscheidet. Da ich selbst einer SF-Gruppe angehöre, kenne ich das Procedere genau – und kann es gut vergleichen etwa mit den Tests beim Gault, wo ich auch dabei war. So wird beim Gault ein Restaurant meistens anonym besucht – und dann wird das Urteil gefällt. Ging´s dem Kochpersonal schlecht oder war es krank, Pech gehabt.
Ganz anders beim SF-Führer: Dort wird in der Regel anfangs meistens auch anonym getestet. Anschließend gehen aber rund vier bis sechs Personen umfassende Testgruppen mehrmals zum Nachtesten, reden im Anschluss daran auch mit dem Betrieb, machen Vorschläge. Alles wird selbst bezahlt, alles ist ehrenamtlich – ein Aufwand, den sich kommerzielle Essensführer natürlich nicht leisten können.
Fruchtbarer Lohn dieser aufwendigen Mühen ist eine unvergleichliche Sammlung von Gasthäusern, die in vielfältiger Weise für eine zukünftige Gastronomie stehen: Es sind Gasthäuser, die nachhaltig und mit kurzen Transportwegen arbeiten; Gasthäuser, die eigene Gärten für Gemüse und Kräuter haben, wie etwa der „Landgasthof Meier“ in Pilsach bei Nürnberg; oder eigenes Vieh, wie etwa das „Biorestaurant Saline“ im thüringischen Creuzburg.
Wichtiger denn je ist der Genussführer, habe ich geschrieben. Denn wollen wir langfristig tatsächlich unsere Anstrengungen zum Klimaschutz und gegen das Artensterben ernsthaft vorantreiben, dann muss auch die Gastronomie einen gewaltigen Beitrag leisten. Allerdings ist es so, dass die meisten Gastronomen mit Produkten aus Großmärkten beliefert werden, die ihre Waren gerne dort einkaufen, wo sie günstig sind, also Gemüse aus Südeuropa, Fleisch aus Argentinien und Fisch tiefgefroren aus der ganzen Welt. Das verursacht ungeheure CO2-Emissionen. Dagegen arbeiten die SF-Gasthäuser mit einem vergleichbar viel geringeren „ökologischen Fußabdruck“, weil sie selbst erzeugen oder regional einkaufen.
Teurer ist die Regionalität wegen den deutschen Löhnen und Umweltstandards aber oft. Schon jetzt höre ich ganz viele Klagen gerade von ökologischen Erzeugern, dass der Absatz dramatisch zurückgeht. „Wir waren auf einem so guten Weg – und jetzt ist alles gefährdet“, bedauert eine Produzentin für Freilandgeflügel. Angesichts der dramatischen Preissteigerungen ist es verständlich, dass die Leute sparen. Aber gerade in Deutschland geben die Menschen prozentual viel weniger Geld für Lebensmittel aus, als etwa in Frankreich. Künftig dürfte dieser Prozentsatz noch deutlich zurückgehen, was gerade für viele Bioproduzenten das Aus bedeuten könnte.
Dramatische Unterschiede bei den zukunftsträchtigen SF-Restaurants sind jetzt schon zwischen Nord und Süd, aber auch zwischen Ost und West zu konstatieren. So finden sich in Sachsen-Anhalt gerade einmal sechs nach Slow Food-Kriterien arbeitende Lokalitäten, während es allein in München sieben sind. Natürlich ist der SF-Führer keine verbindliche Bibel, und es gibt gute Gasthäuser, die aus vielerlei Gründen nicht im Buch stehen, etwa der „Dorfwirt“ in Unterammergau (mit hoffentlich bald wieder eigenen Schweinen) oder das „Dorfstübli“ in Weitenau mit eigenem Vieh. Im Großen und Ganzen liefert der Führer aber ein repräsentatives Bild – und das zeigt, welch gewaltiges Potential noch gehoben werden muss, damit Deutschlands Gastronomie in Zukunft deutlich nachhaltiger wird.
Spannend die ersten 160 Seiten in dem Buch: Da werden verschüttete kulinarische Schätze gehoben. Da erfahren wir in der „Warenkunde“ vom Brot bis zum Wein, welche Kriterien vernünftig hergestellte Lebensmittel erfüllen müssen – und lernen, dass wir gerade einmal einen Anteil von 3,6 Prozent an Bioschweinefleisch haben, was am Geiz der Kunden liegt. Das „ABC der regionalen Spezialitäten“ macht vertraut von der „Ahle Worscht“ (hessische Rohwurst“) über „Nonnenfürzle“ (schwäbisches Schmalzgebäck) bis zum „Zwickel“ (unfiltriertes Bier). In „Regionen und ihre Gerichte“ lernen wir die Heimatküche in ihren Facetten kennen, vom badischen „Schäufele“ bis zum Hamburger „Labskaus“.
Wer das heutige „Döner-Pizza-Pasta-Einerlei“ beklagt, darf sich auf eine wunderbare Vielfalt an Hergebrachtem freuen, was übrigens oft auch deutlich preiswerter ist, weil darunter viele „Arme-Leute-Gerichte“ sind, wie etwa die fränkischen „Mehlspatzen“ aus altbackenen Brötchen.
Gut lesbar und verständlich geschrieben sind die Beiträge, wobei mich nur das lesestörende Gegendere nervt. So interessant das 650-Seiten-Buch ist, es passt nicht mehr wirklich in die Zeit. Denn die Gastronomie steht vor deutlichen Umbrüchen, viele Gaststätten werden verschwinden, neue werden (hoffentlich) dazu kommen. Das lässt sich in Papier kaum schnell genug darstellen, das muss digital geschehen. Keine Angst, werter hochsympathischer „Oekom-Verlag“, dafür lassen sich intelligente Bezahlmodelle entwickeln. Auf jeden Fall existiert schon eine gut funktionierende App mit interessanten Add Ons.
Sympathisch, dass die frühere Preisobergrenze für ein Menü gelockert worden ist. So kann jetzt sogar ein relativ teures Sternerestaurant wie das Berliner „Cookies Cream“ mit seiner herausragenden Gemüseküche aus regionaler Produktion im Führer glänzen.
Drei besonders zukunftsträchtige Gasthäuser möchte ich zum Schluss herausheben: Da sind zum einen Barbara und Valentin Sonner mit ihrem ökologisch bewirtschafteten „Heinehof“ mitten im Schwarzwald. Rund 100 Kühe von alten Rassen, 20 Schweine, derzeit über 350 Gänse und seit neuestem eigene Hühner liefern die Grundlage für die authentische Küche in der urigen Wirtschaft. Ach ja, sogar der Wein kommt aus der eigenen Verwandtschaft. Ein Wohlfühlort!
So autark wie der „Mohren“ im idyllischen Deggenhausertal nahe dem Bodensee arbeitet kaum ein Betrieb in Deutschland – und alles ökologisch: 90 eigene Black Angus-Rinder; eigener Gemüseanbau mit einem Dipl. Agraringenieur; 100 Streuobstbäume; riesige Weideflächen und ein eigener Wald, der dem Hof das Brennholz liefert. Ein Ensemble, das bestens für derzeitige und künftige Energiekrisen gerüstet ist.
Der „Bornheimer Ratskeller“ in Frankfurt begeistert mich – und das ist im wesentlichen Mario Furlanello zu verdanken. Der Wirt, der auch Koch, Metzger (mit ihm habe ich letztes Jahr gewurstet) und Architekt ist, hat aus der eingessenen Ausflugswirtschaft eines der besten Frankfurter Äppelweingasthäuser gemacht, wo die Traditionsgerichte bestens modernisiert werden, etwa eine hinreißende Grüne Soß. Ein fester Stamm von Erzeugern, den der Wirt über Jahre aufgebaut hat, garantiert eine kontinuierliche Belieferung mit nachhaltigen Produkten. Ein vorbildlicher Weg.
„Erzeugertag“ heißt die jährliche Veranstaltung im „Ratskeller“, wo sich rund ein Dutzend Betriebe präsentieren. Ich war Anfang September dort und habe mich wie rund 400 andere Leute (die klug über den Tag verteilt wurden) äußerst wohl gefühlt in der familiären Atmosphäre im prächtigen Garten.
Über ein Dutzend Erzeuger standen meist mit ihren Inhabern Rede und Antwort. Besonders interessiert hat mich natürlich die „Fischzucht Wetterfeld“ mit ihren ausgezeichneten Forellen in der Nähe von Gießen, wo Inhaber Christian Steinbuch bester Laune war, obwohl er nicht weiß, ob er demnächst noch genug frisches Wasser für seine Teiche bekommt.
Gut drauf: Fischzüchter Christian Steinbuch
Der Geflügelhof Antony aus der Wetterau ist der Hoflieferant für Federvieh im Ratskeller. Hühner, Enten, Puten und Gänse finden dort genügend Auslauf und werden von einem eigenen Metzger geschlachtet. Erfreulich: Der aufgeweckte Sohn Markus Antony wird einmal den Betrieb übernehmen. Mitgebracht hat die Familie Antony einen geräucherten Gänseschinken, für mich eines von zwei kulinarischen Highlights beim Erzeugertag. Das andere waren Marios Rehbeisser, raffiniert gewürzt mit Pfeffer, Knoblauch, Koriander, Lorbeer, Muskat, Nelke, Piment, Zimt und Rauch. Hoffentlich stehen die bald regelmäßig auf der „Ratskeller“-Karte!
Saftig und wohlschmeckend: Gänseschinken
Eine politische Dimension hatte Essen schon immer – und diese Dimension wird größer, weil die Nachhaltigkeit und die Regionalität immer wichtiger werden. Die meisten Essensführer sind darauf kaum vorbereitet, sie schwelgen immer noch in der „Fine Dining“- Seligkeit.
Ausdrücklich ausnehmen und loben möchte ich aber den „Guide Michelin“, der mit seinem „Grünen Stern“ immerhin 61 Betriebe auszeichnet, die nachhaltig wirtschaften. Einer davon ist übrigens der „Mohren“. Allerdings erwähnt der Guide wie auch der Gault das Vorzeigegasthaus „Ratskeller“ nicht einmal. Peinlich.
Für den Guide sind die nachhaltigen Betriebe eine Ausnahme. Für den SF-Genussführer die Regel, weshalb ihm die Zukunft gehört.
Fazit: Pflichtlektüre für alle, die guten Gewissens genießen wollen.
„Slow Food Genussführer“, 650 Seiten, 36 Euro, oekom-Verlag, München